Vorurteile und Halbwissen über das Fahren mit Hinterrad- und Heckantrieb im Winter sind fast so alt wie das Auto selbst, fast jeder BMW-Fahrer durfte sich schon den einen oder anderen Spruch über die angebliche Unfahrbarkeit auf Schnee und die klaren Vorteile des Frontantriebs anhören. Die auf Reifentests spezialisierten Experten von Tyre Reviews haben sich nun mit BMW 3er (G20) und Audi A4 (B9) zwei Premium-Vertreter der beiden Konzepte zum Vergleich geholt und liefern in einem ausführlichen Video interessante Aufnahmen, die die Auswirkungen der fahrphysikalischen Theorie auf die Praxis sichtbar machen – und dabei klar aufzeigen, was unzählige BMW-Fahrer seit Jahren wissen und was viele Frontantriebs-Fahrer einfach nicht glauben können oder wollen: Mit der richtigen Bereifung macht Hinterradantrieb im Winter nicht nur mehr Spaß, er bietet sogar spür- und messbare Vorteile.
Der Audi A4 40 TDI geht dabei mit Frontantrieb (Front Wheel Drive, FWD) und der üblichen frontlastigen Gewichtsverteilung ins Rennen, während der BMW 3er als 320d mit nahezu ausgeglichener Gewichtsverteilung an den Start geht und nur die Hinterräder antreibt (Rear Wheel Drive, RWD). Beide Modelle sind mit Automatik-Getriebe und Winterreifen vom Typ Goodyear UltraGrip Performance 3 in exakt identischer Größe ausgerüstet. Alle im Video aufgezeigten Unterschiede gehen also auf die Antriebskonzepte der Fahrzeuge und nicht auf ihre Motorleistung oder unterschiedliche Bereifung zurück, außerdem werden alle Übungen zum Ausschließen von Zufällen mehrfach gefahren.
Los geht es mit dem Anfahren auf ebener Strecke, das ab Minute 1:03 mit aktivierten Stabilitäts-Systemen (ESP bzw. DSC) gefahren wird. Ab Minute 3:23 folgen Versuche mit deaktivierten Helfern, sodass die Antriebskonzepte ihre Stärken voll ausspielen können. Der BMW erlaubt jetzt Schlupf an der Hinterachse, sodass der Fahrer das Heck unter Kontrolle halten muss – aber unterm Strich bekommt er so deutlich mehr Vortrieb auf die verschneite Fahrbahn als der Audi.
Die zweite Übung ist das Anfahren am Berg, der mit einer Steigung von 15 Prozent auf Schnee wirklich eine Herausforderung darstellt. Ab Minute 5:25 ist klar zu sehen, dass manchmal auch der Untergrund den entscheidenden Ausschlag geben kann – obwohl beide Fahrzeuge direkt nebeneinander stehen, scheint es zwischen linker und rechter Fahrspur klare Unterschiede zu geben. Auch hier zeigt der BMW aus Sicht der Tester die insgesamt bessere Performance, obwohl er sich auf der schlechteren der beiden Spuren knapp geschlagen geben muss.
Ab Minute 6:47 fahren Audi A4 und BMW 3er auf eine großen Kreisbahn mit geschlossener Schneedecke, hierbei gibt es aus Sicht von Tyre Review aber keinen klaren Sieger: Mit aktivierten Stabilitäts-Programmen waren die beiden Bayern auf absolut identischem Niveau unterwegs, während bei deaktivierten Systemen vor allem der Fahrer den Ausschlag über die erzielbaren Kurvengeschwindigkeiten gab. Unstrittig sei lediglich, dass die Übung im BMW deutlich mehr Spaß mache.
Vierte und letzte Übung ist das Snow Handling auf einem anspruchsvollen Kurs mit mehreren Richtungswechseln. Allen Versuchen zum Trotz zeigt sich ab Minute 7:07, dass sich das ESP im Audi nicht komplett deaktivieren lässt und auch das Getriebe scheint das Fahrverhalten selbst im manuellen Modus mit automatischen Gangwechseln beeinflussen zu wollen. Zum Vorteil gereicht ihm das nicht, denn der A4 glänzt primär mit Untersteuern. Die Uhr bleibt schließlich bei 71,65 Sekunden stehen.
Ab Minute 9:00 beginnt der BMW 3er seinen Versuch gleich mit einem Powerslide und auch den Rest des Kurses absolviert der Tester dank “DSC OFF” mit sanften, kontrollierten Drifts. Mit einer Zeit von 70,40 Sekunden hat der 320d 1,25 Sekunden Vorsprung – aber mit Blick auf ein objektiveres Ergebnis wurden beide Fahrzeuge auch noch an einen Winterreifen-Profi von Goodyear gegeben, der mit beiden Autos auf einem anderen Handling-Parcours weitere Zeiten ermittelt hat. Auch hier war der BMW rund eine Sekunde schneller und deutlich unterhaltsamer zu fahren.
Bei aktivierten Stabilitäts-Programmen ist es allerdings der Audi, der seinen Single-Frame-Grill vorn hat: Mit einer Zeit von 73,46 Sekunden ist er zwar fast zwei Sekunden langsamer, er wird aber offenbar weniger stark eingebremst als der BMW, der mit “DSC ON” 74,81 Sekunden benötigt. Offenbar ist das DSC-Setup so gewählt, dass der BMW auf Schnee bei aktiviertem Stabilitätsprogramm nur einen sehr geringen Driftwinkel zulässt. So wird das Fahrzeug zwar künstlich eingebremst und objektiv langsamer, aber für weniger geübte Fahrer wird der Hinterradantrieb so subjektiv beherrschbarer und sicherer.
Hier zeigt sich, wie BMW proaktiv auf das Sicherheitsbedürfnis seiner Kunden eingeht: Im Standard-Modus ist der Hinterradantrieb auf leichte Beherrschbarkeit ausgelegt, geübte Fahrer können mit “DTC” (Dynamic Traction Control) oder “DSC OFF” gewissermaßen auf Knopfdruck mehr Fahrspaß und mehr Performance “freischalten”. Diese Logik ist gerade deshalb richtig, um vom Frontantrieb kommenden oder ungeübten Fahrern das im ersten Moment etwas beängstigende Gefühl eines unter Last sanft ausbrechenden und mitlenkenden Hecks zu ersparen.
Natürlich lassen sich nicht alle im Video gezeigten Situationen auf jeden Front- oder jeden Hecktriebler übertragen: Die Traktion ist maßgeblich von der Gewichtsverteilung und dem Anpressdruck auf der jeweiligen Achse abhängig. Frontlastige Hecktriebler wie ein 3er der ersten Generation (E21) hätten in vergleichbaren Situationen wesentlich mehr Probleme, ihre Kraft auf Schnee in Vortrieb umzusetzen – während Hecktriebler mit hecklastiger Gewichtsverteilung, beispielsweise diverse Mittelmotor-Sportwagen oder auch der Porsche 911 mit Heckmotor, wesentlich mehr Traktion als jeder aktuelle 3er haben.
Die Auswirkungen der Gewichtsverteilung werden auch beim Anfahren auf ebenem Untergrund wunderbar sichtbar: Beim initialen Anfahren aus dem Stand ist der im Stand frontlastige Audi tendenziell im Vorteil, aber dann profitiert der BMW von der dynamischen Achslastverteilung: Während die Vorderachse beim Beschleunigen tendenziell entlastet wird und sich der Anpressdruck reduziert, verlagert sich das Gewicht in Richtung Hinterachse und verbessert die Traktion des Hecktrieblers. Die gleichen Effekte sind im Grenzbereich natürlich auch auf trockenem Asphalt vorhanden, nur werden sie dann weniger deutlich sichtbar.
Generell nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung guter Bereifung: Egal mit welchem Antriebskonzept, mit schlechten oder abgefahrenen Winterreifen oder gar auf Sommerreifen hat man auf Schnee mit jedem Auto schlechte Karten. Das gilt selbst für Fahrzeuge mit Allradantrieb: Diese könnten schlechte Reifen dank des Antriebs über alle vier Räder zwar beim Beschleunigen überspielen, aber bei der Kurvenfahrt und vor allem beim Bremsen bietet der Allradantrieb keine Vorteile und leidet genau wie Front- oder Hinterradantrieb unter den niedrigen Reibwerten auf Schnee.