Spätestens seit Einführung verschiedener Fahrmodi hat so manches Auto zwei Gesichter, aber so krass wie im Fall des BMW iX M60 ist die Spreizung ausgesprochen selten ausgeprägt. Wir durften das neue Power-SUV mit Elektroantrieb für einen ersten Fahrbericht mehrere hundert Kilometer in den Alpen und von dort nach München fahren, sodass wir uns einen ausführlichen Eindruck von allen Modi machen konnten. Dabei ist vor allem erstaunlich, wie nah das Topmodell mit dem legendären M im Namen zunächst am regulären iX bleibt – und wie es dennoch immer wieder in der Lage ist, von einem Moment auf den anderen mit seiner enormen Kraft zu beeindrucken.
Was nüchtern betrachtet kein Wunder ist, fühlt sich dennoch gewöhnungsbedürftig an: Gerade noch rollt man vollkommen lautlos und entspannt über die Straße, genießt die auf gutem Asphalt fast schon absurde Stille, aber wenn der Fuß das rechte Pedal auch nur etwas stärker berührt, bricht sofort die brachiale Kraft des Kolosses hervor. 619 PS und bis zu 1.100 Newtonmeter wirken auf die vier Räder und stellen das Hirn des Fahrers wieder und wieder vor die Herausforderung, die erlebte Beschleunigung und das im Hinterkopf sehr wohl bekannte Gewicht von mehr als 2,6 Tonnen irgendwie miteinander in Einklang zu bringen.
Fast noch beeindruckender als die Beschleunigung bei Vollgas ist dabei die Vehemenz, mit der der BMW iX M60 selbst auf kleinere Bewegungen des Gaspedals reagiert: Ansatzlos und ohne jede wahrnehmbare Verzögerung marschiert das Edel-SUV mit derartigem Druck voran, dass der Kopf ebenso unwillkürlich wie regelmäßig mit der Kopfstütze in Kontakt kommt. Überholmanöver und Zwischensprints fühlen sich dabei auch deshalb unverschämt souverän und auf beinahe provokante Art selbstverständlich an, weil parallel zur fulminanten Kraftentfaltung eben kein Motor aufheult oder sonst irgendetwas erahnen lässt, welche Kräfte hier gerade walten – abgesehen von den Zahlen im Head-up-Display, die rasend schnell immer größer werden.
Die Kombination von enormer Kraft und Lautlosigkeit verlangt danach, die Geschwindigkeit wirklich immer im Blick zu behalten: Wer einen Moment nicht aufpasst, fährt sehr schnell und fast unmerklich “zu schnell”. Nicht nur in dieser Situation leisten die Fahrerassistenzsysteme mit ihrer Limit-Funktion gute Dienste, auch sonst erlauben sie dem Fahrer ein sehr entspanntes Fahren: Bei aktiviertem Assisted Driving übernimmt der BMW iX M60 neben der Geschwindigkeitsregelung auch die Spurführung, was selbst auf kurvigen Landstraßen gut funktioniert – auf eher anspruchslosen Strecken fasst man schnell Vertrauen und kann dem Auto die Fahraufgabe weitgehend überlassen, auch wenn man dabei natürlich bei der Sache und bereit für spontane Eingriffe bleiben sollte. Da der iX erkannte Tempolimits selbständig übernimmt, kann er prinzipiell sehr lange ohne tatsächlichen Eingriff autonom fahren, wenn der Fahrer mit einer Hand oder zumindest zwei Fingern am Lenkrad seine Anwesenheit unter Beweis stellt.
Dass der BMW iX als Komfort- und Luxus-Gleiter überzeugen kann, wussten wir aber schon vor der ersten Fahrt mit dem M60. Die Frage ist also: Wie überzeugend ist der Kraftprotz, wenn es um mehr als pure Beschleunigung geht? Die Antwort ist wie so oft ein glasklares “kommt drauf an”: Wer den BMW iX M60 vordergründig auf Strecken mit langgezogenen Kurven bewegt, wird mit der M-spezifischen Fahrwerksabstimmung keine Probleme haben. Mit zunehmend engeren Kurvenradien wird aber auch in diesem Fall immer deutlicher, dass sich die Physik nicht überlisten lässt: Wenn fast 2,7 Tonnen in eine Serpentine geworfen werden, können auch Hinterachs-Lenkung, modellspezifische Hinterachs-Stabilisatoren und Sportreifen keine Wunder vollbringen.
Wer Fahrdynamik und Fahrspaß also direkt mit Kurvengeschwindigkeit, Agilität auf schmalen Straßen und dem betörenden Sound eines Verbrennungsmotors verbindet, wird mit dem BMW iX M60 wohl immer seine Probleme haben und sich auch von den M-spezifischen Iconic Sounds aus dem Hollywood-erprobten Tonstudio von Hans Zimmer nicht umstimmen lassen. Während klassische Sportwagen-Fans also in die Röhre schauen, gibt es dennoch gute Argumente für den neuen Top-iX: Er erschließt der M GmbH eine neue, sich verändernde Zielgruppe, die trotz des Wunschs nach einem Elektroauto keinesfalls auf Leistung verzichten möchte.
Und auf Langstrecken-Fahrten zählen ohnehin andere Qualitäten: Wer die bis zu 561 Kilometer Reichweite primär auf der Autobahn fahren will, kann es sich an Bord des BMW iX M60 richtig gut gehen lassen. Während das Auto den Großteil der Fahraufgabe übernimmt, massieren die belüfteten und auch bei aktiver Lehnenbreitenverstellung nur mittelmäßigen Seitenhalt bietenden Komfortsitze im Takt der Musik den Rücken – zweifellos Qualitäten, auf die ein klassischer Sportwagen-Kunde liebend gern verzichtet. Ebenso gerne verzichtet die Zielgruppe eines iX M60 aber auf einen Motor, der beim morgendlichen Kaltstart die Nachbarn weckt, einen Sitz, der vor lauter Seitenhalt das Ein und Aussteigen erschwert oder ein Fahrwerk, das nur auf topfebenem Asphalt einen gewissen Restkomfort bieten kann.
Vielleicht ist die Antwort auf die Frage nach der Berechtigung des iX M60 also weder ein klares Ja oder Nein, sondern vielmehr eine weitreichende Erkenntnis: Die M GmbH beherrscht im Jahr 2022 längst nicht mehr nur die klassische Spielart der Performance-Klaviatur, ganz aktuell zelebriert vom BMW M4 CSL für die Rennstrecke. Sie hat ergänzend dazu auch Fahrzeuge für Kunden im Programm, die bei aller Leistungsorientierung entspannt, komfortabel und dabei sogar lokal emissionsfrei durch den Alltag kommen wollen. Vielleicht ist BMW M gerade deshalb besser aufgestellt als jemals zuvor in seiner 50-jährigen Geschichte – auch wenn nicht jedes einzelne Produkt zu den Wünschen und Vorstellungen eines jeden langjährigen Fans passen mag.