Es ist nur wenige Jahre her, da standen 326 PS im Datenblatt von BMW M135i und M235i. Wer noch etwas länger zurückdenkt, findet eine ganz ähnliche Zahl auch in den Technischen Daten des BMW M3 (E36) und man darf davon ausgehen, dass damals kaum jemand einen in Serie gebauten Familien-Van mit ähnlichen Eckpunkten für möglich gehalten hätte – und doch ist im Jahr 2022 genau dieses Szenario an Bord des neuen BMW 230e Active Tourer tatsächlich Realität geworden. Möglich macht das die Elektrifizierung des Antriebs, denn während die Reihensechszylinder eines M3, M135i oder M235i ihre rund 320 PS im Alleingang mobilisieren mussten, arbeiten an Bord des 230e ein Dreizylinder (!) und ein Elektromotor Hand in Hand. Gemeinsam kommen die beiden Motoren des Plug-in-Hybriden auf eine Systemleistung von 326 PS und heben den Van damit zumindest in dieser Hinsicht auf Augenhöhe mit veritablen Kompaktsportlern.
Ungewöhnlich für einen im Grunde frontgetriebenen Van ist auch, dass der Elektromotor des BMW 230e Active Tourer (U06) die Rolle der wesentlichen Kraftquelle übernimmt: Vergleichsweise überschaubare 150 PS steuert der vorne quer montierte Verbrenner bei, 177 PS leistet der Elektromotor an der Hinterachse. So ist die Kraftverteilung des BMW 230e xDrive konsequent hecklastig und entsprechend dynamisch, zumal die volle Kraft der E-Maschine jederzeit praktisch verzögerungsfrei abrufbar ist. Für unseren ersten Kurz-Fahrbericht durften wir ein Vorserien-Exemplar des 230e im Süden Spaniens bewegen und konnten uns dabei selbst ein kleines Bild davon machen, wie gut das Gesamtpaket funktioniert.
Fahrdynamische Vorteile im Vergleich zum 225xe der Vorgänger-Generation ergeben sich dabei nicht nur aus dem deutlich potenteren Antrieb mit der fünften Generation der BMW eDrive-Technik, sondern vor allem auch aus der tieferen Position des Lithium-Ionen-Akkus. Dieser ist nun vollständig in den Unterboden integriert und mit 14,9 Kilowattstunden Netto-Energiegehalt groß genug für bis zu 90 Kilometer Elektro-Reichweite gemäß WLTP. In Verbindung mit dem deutlich größeren Kraftstoff-Tank ergibt sich eine theoretische Gesamtreichweite von über 600 Kilometern, die den Vorgänger um fast 200 Kilometer übertrifft.
Ob sich der BMW 230e Active Tourer in erster Linie als lokal emissionsfreier und beinahe lautlos rollender Hybrid oder doch als Kompaktsportler im Kleid eines Familien-Vans gibt, hängt entscheidend vom gewählten Fahrmodus ab. Mit der Wahl des MyMode Sport verzichtet der 230e auf die adaptive Rekuperation, die die Energierückgewinnung normalerweise ständig an Umgebung und Fahrsituation anpasst, wofür unter anderem die vor dem Fahrzeug liegende Strecke, aber auch die Fahrzeuge im unmittelbaren Umfeld und sogar Ampeln berücksichtigt werden.
Für ein möglichst berechenbares und reproduzierbares Fahrverhalten setzt der 230e im Sportmodus immer auf kräftige Rekuperation, sodass jede Verzögerung möglichst intensiv zum Laden des Akkus genutzt wird. Hiervon lässt sich der Active Tourer beim aktiven Bremsen allerdings auch in anderen Fahrmodi nicht abbringen: Wer das Bremspedal drückt, sorgt bis zu einer gewissen Verzögerung nur für eine verstärkte Rekuperation, erst bei stärkeren Bremsmanövern mit mehr als 0,15 g Beschleunigung kommt die eigentliche Bremsanlage zum Einsatz. Das Zusammenspiel von E-Maschine und Bremse funktioniert dabei so verschliffen, dass der Fahrer absolut nichts davon mitbekommt.
Sehr wohl spürbar ist das Gewicht des BMW 230e Active Tourer, denn der komplexe Antrieb erhöht das Leergewicht auf über 1,8 Tonnen. Das Mehrgewicht von rund 220 Kilogramm im Vergleich zum 223i xDrive ist gerade in engen Kehren spanischer Landstraßen nicht zu leugnen, aber im Gegenzug zieht der 230e auf der folgenden Gerade eine völlig andere Show ab: Bei aktivierten Iconic Sounds Electric können die Insassen an ein beschleunigendes Raumschiff erinnernde Klänge erleben, während sie der Schub von 326 PS in die Sitze drückt.
An die mitreißenden Klänge eines hochdrehenden Reihensechszylinders unter Volllast kommt aber auch die von Hans Zimmer komponierte Show-Einlage nicht heran, auch wenn der 230e zweifellos ausgesprochen futuristisch klingt. Immerhin bedeutet die vielzitierte Power of Choice in diesem Fall auch: Wer auf die künstlichen Klänge verzichten will, kann sie mit einer entsprechenden Berührung in den Menüs auf dem Touchscreen jederzeit komplett deaktivieren.
Wer es spontan eilig hat und sofort die volle Leistung abrufen will, kann die linke Schaltwippe etwas länger zu sich heranziehen und damit den Boost-Modus aktivieren. Im Head-up-Display zählt dann ein Timer 10 Sekunden herunter, für diesen Zeitraum bleibt der Antrieb für bestmögliche Beschleunigung vorbereitet. Ähnlich wie der Sprint-Modus des M440i eignet sich die Boost-Funktion vor allem für zügige Überholmanöver, bei denen für kurze Zeit die volle Leistung abgerufen werden soll.
Ob dabei wirklich 326 PS anliegen müssen oder ob nicht auch der 245 PS starke 225e einen für Familien-Vans ausreichend starken Antrieb darstellt, muss wie immer jeder für sich entscheiden. So oder so wird der Active Tourer nicht zum Sportwagen: Der sehr gute Fahrwerks-Komfort und die relativ hohe Sitzposition erinnern genau wie das Platzangebot jederzeit daran, dass man dem sehr potentem Antrieb und der Option zur Beschleunigung von 0 auf 100 in 5,5 Sekunden zum Trotz “nur” in einem unvernünftig starken Kompakt-Van sitzt. Wer also keinen Sportwagen erwartet und Fahrspaß nicht in erster Linie über extreme Kurvengeschwindigkeiten definiert, der kann mit dem 230e jede Menge Spaß haben und für viele erstaunte Gesichter sorgen – sowohl beim Besprechen der imposanten Fahrleistungen als auch beim Thema Elektro-Reichweite.