Hinterradantrieb und eine annähernd ausgeglichene Gewichtsverteilung waren für Jahrzehnte nicht nur der Markenkern von BMW, sondern als Grundlage für das Münchner Verständnis von Freude am Fahren auch ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal zu direkten und indirekten Wettbewerbern. Doch was bei Fahrzeugen mit konventionellem Antrieb und Frontmotor vergleichsweise aufwändig und kostenintensiv war, lässt sich im Zeitalter der Elektromobilität völlig kostenneutral realisieren. Das in den letzten Jahrzehnten nur noch von wenigen Marken mit besonderem sportlichen Anspruch auf breiter Basis umgesetzte Technik-Ideal verliert so seine Besonderheit und wird über alle Preisklassen hinweg wieder zum Standard. Die Marke BMW verliert im gleichen Atemzug nicht nur ihr grundlegendes technisches Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zur Premium-Konkurrenz von Audi und mit Abstrichen auch gegenüber den stets etwas frontlastigeren Mercedes-Modellen, sondern auch im Vergleich zu Volumenmarken wie VW oder Kia.
Der Hintergrund ist schnell erklärt: Boten ein weit vorn platzierter Motor, Frontantrieb und eine daraus resultierend deutlich frontlastige Gewichtsverteilung bei Fahrzeugen mit Verbrenner das beste Gesamtpaket aus Platznutzung und Kosteneffizienz, spielt die Position des Antriebs bei den erheblich kleineren Elektromotoren kaum noch eine Rolle. Die aus fahrphysikalischer Sicht unbestreitbaren Vorteile des Hinterradantriebs werden so plötzlich ohne Zusatzkosten greifbar – und weil der Verbrenner als schwerste Einzelkomponente entfällt, ist auch die Frontlastigkeit kein Thema mehr. Der schwere Lithium-Ionen-Akku eines Elektroautos ist praktisch zwingend mittig im Fahrzeug-Unterboden untergebracht, auch mit Blick auf bestmögliche Crash-Sicherheit.
Im Ergebnis ändern sich die technischen Eigenschaften der Fahrzeuge vieler Marken grundlegend: Egal ob VW ID.3, Audi A6 e-tron, Porsche Taycan, BMW i4, Mercedes EQS oder Skoda Enyaq IV: Die einst exklusive Kombination von Heckantrieb und annähernd ausgeglichener Gewichtsverteilung ist der neue Standard, den früher oder später praktisch alle Hersteller ihren Kunden bieten werden. Bei besonders leistungsstarken Modellen wird hier wie da ein zusätzlicher E-Motor an der Vorderachse verbaut, der die Hecktriebler zu Allradlern mit hecklastiger Kraftverteilung macht. Fahrzeuge wie Mercedes EQA und EQB oder auch MINI Cooper SE, die aufgrund ihrer Nähe zu konventionellen Modellen mit Frontantrieb primär die Vorderräder antreiben, werden unter den Elektroautos der nächsten Generation echte Exoten sein.
In München hat man diesen unumkehrbaren Trend seit Jahren kommen sehen, schließlich wurde das zugrundeliegende Technik-Layout auch beim BMW i3 aus einer Vielzahl guter Gründe gewählt. Dass auch Marken wie Audi, die historisch eng mit dem Thema Frontantrieb verzahnt sind, im Zuge des Wechsels zur Elektromobilität in Richtung Heckantrieb umschwenken, dürfte im Münchner Vierzylinder also niemanden ernsthaft überrascht haben. Und dennoch: Auf den Verlust des bisherigen Unterscheidungsmerkmals Nummer 1 hätten die Manager sicher gerne verzichtet.
Denn klar ist auch: Mit der zunehmenden Verbreitung von Elektroautos mit tiefem Schwerpunkt, ausgeglichener Gewichtsverteilung und Heckantrieb erhalten Kunden auf der Suche nach einem sportlichen Auto plötzlich eine erheblich breitere Auswahl und können zwischen wesentlich mehr Marken wählen als in der Vergangenheit. Für BMW heißt das: Wenn die Münchner auch in Zukunft für besondere Freude am Fahren stehen wollen, müssen sie spürbare Vorteile bei Fahrwerk und Lenkung erhalten und ausbauen.
Außerdem müssen sie jene Faktoren weiterentwickeln und stärken, die unabhängig vom Technik-Layout der Fahrzeuge wichtige Kaufgründe darstellen: Image, Design, Infotainment, leistungsfähige Assistenzsysteme sowie Verarbeitungsqualität und Materialien im Innenraum müssen in Zukunft einen noch größeren Beitrag zum Premium-Erlebnis der Marke BMW leisten als in der Vergangenheit.