Bis vor wenigen Jahren schien der Weg in Richtung Autonomes Fahren kurz, BMW und viele andere Autobauer kündigten leistungsfähigste Systeme bis hin zu Level 4 oder gar Level 5 für die nahe bis mittelfristige Zukunft an. Wären die Prognosen und Versprechungen aus der Mitte des letzten Jahrzehnts eingetreten, würden heute diverse Autos entsprechende Funktionen bieten – stattdessen hat sich jedoch eine deutlich zurückhaltendere Konzentration auf die weniger vielversprechenden Begriffe des automatisierten oder hochautomatisierten Fahrens (Level 2 bis 3) durchgesetzt. In der Kommunikation zum Thema werden nun neben Chancen und Visionen auch die großen Schwierigkeiten und Herausforderungen offen thematisiert.
Denn klar ist zumindest aus Sicht der deutschen Autobauer wie BMW: Der (menschliche) Fahrer kann erst dann aus dem Spiel und aus der Verantwortung genommen werden, wenn die Assistenzsysteme auch in kritischen Ausnahme-Situationen immer eine gute Lösung finden können. Während Teilaspekte wie die entspannte Fahrt auf einer mehrspurigen Autobahn schon seit Jahren gut funktionieren, sind Sonderfälle wie das korrekte Verhalten in einer Tunnel-Baustelle weiterhin eine Herausforderung, in der die Systeme die Steuerung lieber wieder an den Menschen übergeben. Auch der Stadtverkehr mit seinen zahlreichen verschiedenen und nicht immer rücksichtsvollen Verkehrsteilnehmern sowie engen und zum Teil unübersichtlichen Straßen ist momentan kaum sicher beherrschbar. Auch in ländlichen und abgeschiedenen Gebieten ohne 5G-Abdeckung ist an Autonomes Fahren (Level 5) derzeit nicht zu denken.
Bevor das erste Auto ohne Lenkrad also tatsächlich seinen Marktstart feiert, dürfte noch sehr viel Zeit vergehen: Die Idee vom Fahrzeug, das seine Insassen ohne deren Zutun sicher von jedem A zu jedem B bringen kann, ist in den letzten Jahren wieder vom greifbaren Szenario in den Bereich der Zukunftsmusik abgedriftet. Wo die Entwickler der BMW Group heute tatsächlich stehen, wie die Kunden die aktuellen Level-2-Assistenzsysteme annehmen und tatsächlich in ihrem Alltag nutzen, welche Funktionen aktuelle Hightech-Fahrzeuge wie der BMW iX konkret beherrschen und wann die Kunden die nächsten größeren Schritte in Richtung Autonomes Fahren erwarten dürfen, klären nun einige ausführliche Aussagen von Dr. Nicolai Martin, Bereichsleiter Entwicklung Automatisiertes Fahren bei der BMW Group:
Herr Martin, Sie sind Ingenieur aus Leidenschaft. Was treibt Sie an?
Mir macht es Freude, den Dingen auf den Grund zu gehen und sie zu verstehen. Zwar war Leistungssport – konkret das Windsurfen – bis hinauf zu olympischer Ebene eine echte Berufsoption, aber am Ende hat doch das Wirtschaftsingenieurswesen und die Fahrzeugtechnik das Rennen gemacht.
Mich begeistern Herausforderungen und Fragestellungen, in die man sich einarbeiten muss – die komplex sind und zugleich eine gesellschaftliche Relevanz haben. Denn am Ende möchte ich reale, relevante Probleme nachhaltig lösen und Fortschritt vorantreiben. Und ich habe das Glück, mit einem großartigen Team an einer der relevantesten Aufgabenstellungen für die Zukunft automobiler Mobilität zu arbeiten: dem Automatisierten Fahren.
Einerseits treiben wir die Entwicklung innovativer Technologien aktiv voran und forschen mit nahezu akademischem Anspruch. Auf der anderen Seite prüfen wir genau, welche Anwendungsmöglichkeiten wir tatsächlich realisieren, um damit Kunden weltweit einen Mehrwert zu bieten. Denn letztendlich wollen wir in erster Linie unsere Kunden begeistern. Das ist eine spannende und nicht immer einfache Balance.
Welchen Mehrwert bietet ein automatisiert fahrendes Fahrzeug?
Automatisierung bringt grundsätzlich einen Gewinn an Komfort und Sicherheit. Denn das System fährt konstant, man selbst eher nicht. Diese Unterstützung, teilweise sogar Entlastung, schätzen unsere Kunden. Wir sehen beispielsweise, dass jene Fahrer in Europa, die unseren Driving Assistant Professional im Fahrzeug haben, bereits ca. 50 Prozent der Fahrzeit mit der aktiven Längsführungsfunktion fahren. Bei der Querführung sind es immerhin aktuell 30 Prozent der Fahrzeit. Ermittelt aus 120 Mio. gefahrener Kilometer unserer Kundenflotten. Das ist viel. Wir ziehen daraus den Schluss, eine Funktion geschaffen zu haben, die einen realen Mehrwert bietet. Im Allgemeinen werden unsere Systeme weltweit hervorragend angenommen und machen gleichzeitig das Fahren schon heute nachweislich sicherer.
Welche Rolle spielt zukünftig Automatisiertes Fahren im Kontext individueller Mobilität?
In Zukunft wird die Intelligenz eines Fahrzeugs immer wichtiger. Die Automatisierung der Fahraufgabe nimmt darin einen maßgeblichen Platz ein. Was im Kleinen etwa mit der Automatisierung der Lichtfunktionen begonnen hat, umfasst heute schon die assistierte Längs- und Querführung des Fahrzeugs. Wenn Sie beispielsweise von München in die Toskana in den Urlaub fahren, nimmt Ihnen das System nicht nur das Ein- und Ausschalten des Lichts bei zahlreichen Tunneldurchfahrten ab, sondern auch die konstante Einhaltung von Geschwindigkeitsvorgaben oder den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug. Wenn wir weiter gehen und das Fahrzeug mit den Möglichkeiten von Konnektivität und dem semantischen Wissen des Fahrers ergänzen, wird es mehr und mehr zum intelligenten Begleiter oder gar Freund, das den Fahrer unterstützt und somit begeistert. Das bauen wir Stück für Stück weiter aus.
Wo steht BMW beim Automatisierten Fahren?
Aktuell haben wir bereits rund 40 Fahrerassistenz-Funktionen auf der Straße, die zu den besten im Markt zählen. Diese umfassen den Fernlichtassistenten ebenso wie die Rückfahrkamera oder den intelligenten Abstandstempomaten mit Quer- und Längsführung inklusive Ampelerkennung. Im Bereich aktiver Sicherheit bilden unsere Fahrerassistenzsysteme die Basis für das höchste NCAP-Rating (5 Sterne) und die Top-Ausstattung mit dem Driving Assistant Professional wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Kurz gesagt: Wir bauen unsere Level 2-Funktionen konsequent weiter aus. Sie sind nahezu allverfügbar und unterstützen beziehungsweise nutzen dem Kunden bereits heute beim Fahren und Parken. Je nach regionaler Gesetzgebung können sie sich in der Ausprägung oder Verfügbarkeit unterscheiden. So bieten wir in den USA und China eine „Hands-Off“-Option an, in der der Fahrer die Hände (bis 60 km/h) vom Lenkrad nehmen kann, die Fahrsituation jedoch weiterhin beobachten muss und in der Verantwortung ist. Die Funktion bricht nach mehreren Warnsignalen dann ab, wenn der Fahrer nicht mehr aufmerksam ist.
Und wann bringt BMW nun Level 3 auf den Markt?
Neben der Weiterentwicklung unserer Fahrerassistenzfunktionen (Level 2) arbeiten wir parallel intensiv an der Befähigung unserer Fahrzeuge für hochautomatisiertes Fahren, das heißt Level 3, und sind hier auf einem sehr guten Weg. Bereits heute übernehmen unsere automatisierten Assistenzfunktionen in vielen Situationen große Teile der Fahr- und Parkaufgabe. Der Fahrer muss allerdings nach wie vor die Umgebung beobachten und hat stets die volle Verantwortung für die Fahraufgabe. Mit „Remote Control Parking“ haben wir das fahrerlose Parken des Fahrzeugs heute bereits realisiert, doch muss auch hier der Fahrer das Fahrzeug und dessen Umgebung per Smartphone beziehungsweise Schlüssel überwachen und ist in der Verantwortung. Damit rückt das Thema Level 4 im Bereich Parken, also beispielsweise, dass sich das Fahrzeug in einem Parkhaus einen Parkplatz selbst sucht und parkt, in greifbare Nähe.
Eine Level 3-Funktion – das heißt: wenn die Verantwortung vom Menschen auf die Maschine übertragen wird – werden wir in unseren Fahrzeugen erst anbieten, wenn diese absolut sicher ist und einen Mehrwert bietet. Das System muss in Extremsituationen – sogenannten „corner cases“ – sicher reagieren. Das ist unser Anspruch.
Unterscheidet sich Ihr Ansatz im Wettbewerbsumfeld, das heißt gibt es einen „BMW Weg“ des Automatisierten Fahrens?
Wir entwickeln Automatisiertes Fahren mit einem klaren Ziel: Unseren Kunden ein Mehr an Sicherheit und Komfort zu bieten. Für die BMW Group ist die Technologie vor allem ein Befähiger, um unseren Kunden durch automatisierte Fahr- und Parkfunktionen ein positives und emotionales Erlebnis zu ermöglichen. Denn das steht klar im Vordergrund. Gleichzeitig soll die Technik zu keiner Zeit bevormunden. Die richtige Balance aus Sicherheit für alle und Mehrwert für den Einzelnen ist uns wichtig.
In meinen Augen steht BMW in Zukunft für die bestmögliche Verbindung der Welt des Automatisierten Fahrens, bei uns „Ease“ genannt, mit der Freude am Selbstfahren, kurz: „Boost“. Jeder Kunde soll selbst entscheiden können, ob er dynamischen Fahrspaß durch Selbstfahren erleben will oder in bestimmten belastenden oder freudlosen Fahrsituationen wie dem Stau, Stop & Go Verkehr oder Parken, lieber das Fahren abgibt und die eigene Zeit anders nutzt. Dabei wird ein BMW seinen Fahrer stets optimal unterstützen und begleiten. Durch meine frühere Aufgabe im Unternehmen, der Entwicklung von aktiver Fahrdynamik, kenne ich beide Pole sehr gut und durfte deren Grenzen ausloten und erleben. Für mich ist daher klar, dass beide Dimensionen in Zukunft einen BMW ausmachen werden.
Was können wir vom vollelektrischen BMW iX an automatisierten Funktionen erwarten?
Der BMW iX ist das erste Fahrzeug der BMW Group, das automatisierte Fahr- und Parkfunktionen aus einem neuen Technologiebaukasten bieten wird. Dieser Baukasten ermöglicht eine kontinuierliche Verbesserung und Erweiterung der Fahrerassistenzfunktionen und mittelfristig hochautomatisiertes Fahren (Level 3). Er wird weiter ausgerollt und beispielsweise in der nächsten Generation der BMW 7er und BMW 5er Baureihe eingesetzt.
Beim BMW iX schaffen wir zudem einen echten Kundenmehrwert, indem wir einzelne automatisierte Assistenzfunktionen intelligent und im Hinblick auf relevante Fahrsituationen zusammenfassen. Durch das neue BMW Operating System 8, lassen sich unsere Fahrerassistenzfunktionen noch einfacher bedienen. Gleichzeitig haben wir die Steuerung auf das Wesentliche reduziert. So stellen wir sicher, dass der Fahrer schnell den optimalen Grad der Unterstützung aktivieren kann. Uns geht es um die gesamthafte und intelligente Automatisierung, um die Vereinfachung der Systemzustände und eine intuitive Bedienung. Eine erkennbare Folge der Vereinfachung ist zum Beispiel die Reduzierung der Tasten am Multifunktionslenkrad.
Tatsächlich hat die Realität beziehungsweise Komplexität viele Ambitionen hinsichtlich höherer Automatisierungsstufen beziehungsweise deren Marktreife und Marktverfügbarkeit eingeholt. Denn nur weil ein Fahrzeug Level 3-fähig ist, heißt es noch lange nicht, dass es auch überall Level 3-automatisiert fahren darf beziehungsweise kann. Vielmehr ist dies aktuell nur auf ganz wenigen Strecken und unter hochspezifischen Bedingungen erlaubt. Wir wägen daher bewusst ab, wann der richtige Zeitpunkt ist, denn wir wollen nur relevante und vor allem absolut sichere Funktionen anbieten. Das heißt, hier haben auch wir unsere Ambitionen kritisch hinterfragt und arbeiten nun in einem neu ausgerichteten Fahrplan fokussiert weiter.
Ein entscheidender Punkt beim Automatisierten Fahren ist die Akzeptanz bei Fahrer/innen, diese zu nutzen. Wie schaffen Sie das?
Die Akzeptanz ist, je nach Region, durchaus unterschiedlich. Wir bemühen uns hier sehr, das Vertrauen der Kunden zu gewinnen, indem sie sich im Verhalten des Fahrzeugs wiedererkennen. Dabei hat Sicherheit für uns immer oberste Priorität. Entsprechend prägen wir das System eher defensiv aus, sodass kein Kunde von einem zu forschen Fahrverhalten überrascht wird. Auch ein schlüssiges Anzeige-Bedien-Konzept ist hier wichtig: Wie vermitteln wir dem Kunden beispielsweise gut sichtbar, dass der Sensor das Fahrzeug vor einem erfasst hat und die Funktion aktiv ist? Vielleicht hilft es in Zukunft sogar, den einen oder anderen Sensor bewusst zu inszenieren, statt sie wie heute eher zu verstecken. Aber das ist nur eine von vielen Facetten. Wie gesagt, wir arbeiten hier an einem der spannendsten Bereiche der Automobilindustrie.
Herzlichen Dank für das Gespräch.