Niemandem muss erklärt werden, dass in einem Vierteljahrhundert viel Zeit für technische Entwicklungen ist. Denkt man zurück an die Technik der frühen 90er, als es im zivilen Bereich noch kein Internet gab und mobiles Telefonieren der reine Luxus war, fallen sofort unzählige Beispiele für aus heutiger Sicht ziemlich überholte Technik ein. Für einen kurzen Ausflug in die Vergangenheit hatten wir im Rahmen der ersten Fahrt mit dem neuen BMW 4er Coupé G22 auch die Gelegenheit für eine kurze Ausfahrt mit dem ersten BMW 3er Coupé, das als Mitglied der E36-Familie auf den Markt kam. Obwohl die Vorgänger-Generationen der 3er-Reihe ebenfalls mit zwei Türen ausgeliefert wurden, sprach zu ihrer Zeit niemand von einem Coupé: E21 und E30 wurden als zweitürige Limousine verkauft.
Doch wie schlägt sich ein BMW 3er E36 Baujahr 1994 im direkten Vergleich mit einer noch gar nicht offiziell enthüllten Neuheit aus dem Jahr 2020? Wenig überraschend gibt es eine Vielzahl interessanter Unterschiede, aber fangen wir mit einer Einordnung an: Der von uns bewegte 325i E36 ist nicht irgendein Exemplar, sondern eines der früheren Beispiele für die Arbeit von BMW Individual. Nicht nur die Exterieur-Lackierung in Violett Metallic (Nein, es handelt sich nicht um Technoviolett) ist bemerkenswert, auch im Innenraum wird die Außenfarbe in zwei unterschiedlichen Varianten aufgegriffen. Dass die Komposition nicht jedermanns Geschmack trifft, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle: Bei BMW Individual war die Erfüllung individueller Wünsche schon immer wichtiger als Massenkompatibilität.
Damit auch weniger interessierte Mitfahrer von der Exklusivität des Fahrzeugs erfahren, wurden in diesem Fall auch die Türgriffe mit einem BMW Individual-Schriftzug versehen. Das von uns gefahrene BMW 3er Coupé aus dem Fundus der BMW Group Classic präsentiert sich dabei innen und außen in einem beinahe fabrikneuen Zustand und zeigt keine sichtbaren Zeichen der Alterung, wobei der Kilometerstand von weniger als 11.600 Kilometern natürlich eine große Rolle spielt.
Dennoch kann der BMW 3er E36 sein Alter schon im Stand nicht verbergen: Das Cockpit begrüßt den Fahrer mit einem beinahe vollständig analogen Tacho, nur der Bordcomputer informiert digital über ein paar aus heutiger Sicht rudimentäre Eckpunkte wie den Kilometerstand. Dass auch in der Mittelkonsole mehrere Monochrom-Displays leuchten, liegt an der umfassenden Sonderausstattung unseres Testwagens. Auch das Lenkrad mit seinem relativ dünnen Kranz und ohne einen einzigen Knopf wirkt im Jahr 2020 wie eine kleine Zeitreise. Zum Vergleich: Im BMW 4er G22 befindet sich eine zweistellige Anzahl von Knöpfen und Reglern auf den Speichen, hinzu kommen die beiden Schaltwippen für das in den 90ern unvorstellbare Achtgang-Automatikgetriebe.
Dreht man den Schlüssel zum Motorstart – natürlich war an einen Start-Stopp-Knopf noch nicht zu denken – erwacht der im 325i verbaute Reihensechszylinder aus der M50-Familie sanft zum Leben. Gleich auf den ersten Metern spürt man, wie ungefiltert Autofahren in den 90ern war: Die Lenkung informiert den Fahrer über jede Unebenheit und jede Störung im Fahrbahnbelag, was nicht nur Vorteile mit sich bringt. Die Windgeräusche sind schon bei Geschwindigkeiten unter 100 km/h deutlich wahrnehmbar, während man in einem heutigen 3er oder 4er beinahe völlig von der Außenwelt abgeschottet ist. Dass die kleine Zeitreise auf 15-Zoll-Felgen mit 205er-Bereifung rundum stattfindet, verdeutlicht noch einmal die Unterschiede zur heutigen Mittelklasse von BMW.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied betrifft die Rundumsicht, denn die dünnen Säulen der Karosserie und die großen Glasflächen erlauben einen deutlich freieren Blick auf die Umgebung vor, neben und hinter dem Fahrzeug. Das ist auch gut so, denn unser Testwagen hat selbstverständlich weder Totwinkel-Assistent noch Parksensoren oder Rückfahr-Kamera – schließlich hätte er auch kein Infotainment-Display, um das Bild einer solchen Kamera anzuzeigen. Ebenfalls nicht an Bord sind praktisch alle elektronischen Fahrhilfen mit Ausnahme von ABS. Die inzwischen um unzählige Unterfunktionen erweiterte und längst serienmäßige Elektronische Stabilitätskontrolle wurde in unserem BMW 3er E36 ebensowenig verbaut wie ein Fahrerlebnisschalter: Wer hier ein anderes Fahrerlebnis will, greift zum Wählhebel des Fünfgang-Getriebes, schaltet zwei Gänge runter und gibt Vollgas!
Das Herunterschalten sollte man dabei keinesfalls vergessen, denn der frei saugende Sechszylinder verlangt nach Drehzahlen: Unterhalb von 3.000 Umdrehungen pro Minute hält sich der Vortrieb in engen Grenzen – und dabei sollte man sich kurz vergegenwärtigen, dass der BMW 325i seinerzeit das Topmodell unterhalb des M3 war. Auch der 1995 nachgelegte 328i mit 193 PS war nur geringfügig schneller. Während das heutige Topmodell unterhalb des kommenden M4 auf den Namen M440i hört und in kaum mehr als 4 Sekunden auf 100 km/h beschleunigt, war eine Werksangabe von 7,9 Sekunden 1994 noch eine echte Ansage: Sämtliche Vierzylinder benötigten über 10 Sekunden und auch der Einstiegs-Sechszylinder 320i blieb nur haarscharf im einstelligen Bereich.
Doch Beschleunigung hin oder her: Wenn die Straßen kurviger werden, zeigt der BMW 3er E36 seine hochwertigen Anlagen. Dank ausgeglichener Gewichtsverteilung, Hinterradantrieb und einem Leergewicht von kaum mehr als 1,3 Tonnen kann man auch heute noch Freude am Fahren erleben. Ganz anders als heute und natürlich auf einem insgesamt niedrigeren Geschwindigkeits-Niveau, aber irgendwie auch ehrlicher und direkter: Während moderne Autos ihrem Fahrer viele kleine Fehler verzeihen, steht das Fahrkönnen bei E36 & Co. noch voll im Mittelpunkt – elektronische Helfer sind schließlich nicht mit an Bord.